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Donnerstag, 15. Juli 2010

Der Stachel

Irgendwas muss sich verändern, dachte sie und blickte aus dem Fenster, das zum Hinterhof führte. Graue Wände, wohin sie nur sah. Was hatte sie erwartet? Die wunderbare Welt? Die gab es schon lange nicht mehr, wenn sie den Erzählungen ihres Vaters glaubte. Arbeitslosigkeit, Ungerechtigkeit und Scheidung. Vielleicht war das der Alltag, von dem alle sprachen.
Aber das sollte alles sein?
Sie strich über ihre blaue Tagesdecke, zupfte die Kissen zurecht. Wir ordentlich alles war, wie unaufgeräumt ihr Kopf.
Vielleicht musste sie einfach spazieren gehen, vielleicht musste sie frische Luft in ihren kaputten Lugen spüren, vielleicht sollte sie rennen, bis sie kotzen musste.
Sie setzte sich auf ihr Bett und stützte den schweren Kopf auf ihren Händen ab.
Sog die abgestandene Luft tief in ihren Körper, bis auf den Grund der geschädigten Organe. Blut rauschte in ihren Ohren. Das erinnerte sie an den Tag, an dem ihr Vater ihren Traum von der Muschel zerstört hatte.
„Du hörst doch nicht das Meer rauschen, Dummerchen! Das ist das Blut, das fließt, nicht der Atlantik, nicht das Mittelmeer, noch nicht mal die Ostsee! Du musst noch viel lernen!“ Danach hatte er sich ein Bier geöffnet, sich vor den Fernseher gesetzt und sie mit dem Lernen alleine gelassen. Wie so oft.
Vielleicht war das seine Rache an ihrer Mutter. Vielleicht ließ er sie so oft alleine, um zu merken, wie es ist, jemanden geliebtes zu verlassen. Denn er tat es, jedes Mal, wenn er sie mit einem kurzen Satz abspeiste und sich lieber mit der Vormittagsshow im TV beschäftigte, als mit ihr.
Sie hatte früh gelernt, dass Weinen nur eine Zeit- und Tränenverschwendung war und ihr nur ein paar Ohrfeigen einfingen. Manchmal kullerten aber trotzdem noch ein paar Tropfen aus ihren trüben Kinderaugen. Wenn sie allein war oder wenn der Vater sie weggesperrt hatte. Mal auf dem Balkon, mal in der Küche.
Sie zog den Karton unter ihrem Bett hervor, öffnete den Pappdeckel und zählte die bunten Pillen. Viele, es waren viele geworden, in den Jahren.
Jeder Mensch sammelt etwas, dachte sie. Briefmarken, Tüten oder Hüte! Und ich sammle nun mal diese kleine Glücksbringer.
Viele davon waren rot, andere blau und dann gab es auch noch welche, die einen komischen Gelbton angenommen hatten. Fast so wie Pipi, dachte sie und musste grinsen.
„WO SIND DIE VERFICKTEN LEERGUT-BONS?!“
Die Stimme ihres Vaters ist schön, wenn er nicht brüllt. Das hatte sie allen erzählt, um sie ruhig zu stellen. Allgemein ist er nicht sehr böse, manchmal geht es ihm halt nicht so gut. Die Freundinnen hatten verständnislos den Kopf geschüttelt. Im Endeffekt verstand sie eh niemand. Und wenn sie ehrlich war, verstand sie ihre Lügen auch nicht.
Die Haustür fiel zu, sie sah ihrem alten Herren dabei zu, wie er die Kreuzung überquerte, vor sich hin schimpfte und in die Richtung des Getränkemarktes ging.
Du hast immer noch deine Glücksbringer. Du hast sie unter deinem Bett. Dir kann nichts passieren.
Sie räumte die gesamte Wohnung auf, brachte den Müll nach draußen und gab den Katzen Futter. Die Bilder ihrer Mutter drehte sie wie jeden Tag wieder um, obwohl sie wusste, dass das ihren Vater verärgerte.
„DIESE DUMME FOTZE SOLL BLEIBEN, WO SIE IST! WIR BRAUCHEN SIE NICHT!“
Es war ihr Wunsch gewesen, dass die Bilder blieben.
Dafür drehte ihr Vater sie jeden Tag aufs Neue um.
Du hast immer noch deine Glücksbringer. Du hast sie unter deinem Bett. Dir kann nichts passieren.
Die Tür wurde aufgeschlossen, der Vater trat ein.
„Schon wieder aufgeräumt, wat?!“ Er lallte, konnte aber noch gerade gehen. Sie hakte sich bei ihm unter und brachte ihn zum Sofa.
„Bring mir ma ein Glas Wasser.“ Das war keine Bitte. Sie lief schweigend in die Küche und suchte ein Glas, das nicht kaputt oder dreckig war.
Verlernt man eigentlich sprechen, wenn man es nie tut?
Das Glas in seiner Hand zitterte verdächtig und plötzlich wusste sie, warum das Geschirr Risse und Sprünge besaß.
Er legte sich längst auf die Couch und schloss die Augen.
„Dank dir. Weißte, ich find, wir machen dat hier ganz gut. Bist doch meine Kleine.“
Dann schlief er ein. Nach ein paar Minuten hörte man ihn schnarchen. Sie verzog sich langsam, vorsichtig setzte sie einen Fuß nach dem anderen auf den dreckigen Teppich, versuchte, keine Geräusche zu machen.
Im Zimmer atmete sie geräuschvoll aus.
Vielleicht hat er recht, dachte sie und rollte sich auf ihrem Boden zu einer Kugel zusammen. Wie ein Igel, überlegte sie. Die Vorstellung gefiel ihr: Über und über mit Stacheln bewachsen zu sein. Und keiner kann mich anfassen, keiner tut mir etwas.
Ein kleines Lächeln entstand auf ihrem Gesicht. Nicht für lange, zwei, drei Sekunden, aber es war genug.
Die Augen geschlossen, die Hände an den Beinen geklammert. Im Hintergrund ihr schnarchender Vater. Vielleicht war auch das Alltag.

Am nächsten Morgen war der Karton unter dem Bett geleert, ein Zettel lag neben dem billigen Versteck.
„Weil ich kein Igel bin.“


4 Kommentare:

  1. Das Ende verstehe ich nicht ganz...
    aber es ist sau gut geschrieben! MEHR!

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  2. ja, mir wird die bedeutung die der schluss, wahrscheinlich, haben soll, auch nicht ganz klar? erklärungen?
    aber sonst, kompliment, das sind gute geschichten. sind sehr selten geworden, bei den 1000000 kiddies, die jetzt blogs vollspamen.

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  3. oh mein gott, das ist unglaublich gut.

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  4. das ist so gut nina,
    wenn man es denn versteht

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