Suche Sinn, biete Finderlohn.

Freitag, 30. Juli 2010

Die Opfergabe

Morgen ging es zurück ins beschissenste Land der Welt, dachte er und warf einen Stein in die Flut. Das Wasser riss ihn mit sich und er sah ihn nur noch als kleinen Punkt im blauen Wasser. Der Himmel verfärbte sich rosa, die Pärchen, die sich jetzt am Strand befanden warfen Floskeln wie „Oh schau mal, sooo ein schöner Sonnenuntergang!“ um sich und er saß da und starrte aufs Wasser.
Wie lange dauert es, bis man wirklich tot ist? Und wie viel Wasser bräuchte man dafür?
Die Wellen überschlugen sich, Schaumkronen wurden immer größer. Er stellte sich vor, wie es wäre, unter diesen Wassermassen begraben zu sein.
Dann findet auch niemand meine Leiche. Trübe Gedanken an einem leeren Tag.
Sein gesamtes Leben war leer. Seitdem Jamie gegangen war gab es keinen Grund mehr, in die Schule zu gehen. Seine Ausbildung war ihm scheiß egal geworden, sein Hobby, die Musik ebenfalls.
Die Sonne war fast verschwunden.
Früher wollte Jamie immer Rapper werden. So einer mit sinnvollen Texten und Botschaften, die den Staat angriffen und die kleinsten Rebellen stärker werden ließ.
Er hatte immer zugesehen, wenn er getextet hatte, manchmal warf er auch ein paar Reimwörter ein, die Jamie natürlich alle beschissen fand.
Unter Jungs ist das halt etwas Anderes, hatte er sich damals gedacht.
Sein iPod spielte immer wieder dasselbe Lied.
Wie sagte Eminem?
„Have you ever loved someone so much you’d give an arm for? Not the expression, no, literally give an arm for?”
Jungen weinen nicht, dachte er immer wieder und spuckte ins Wasser. Jungen weinen nicht. Jungen dürfen nicht weinen. Sang doch schon „The Cure“.
Er warf sich in den Sand, zog die Stöpsel aus seinen Ohren und hörte nur noch das Rauschen des Meeres.
„Ich weiß nicht, ob du’s weißt, Jamie, aber ich hätte viel mehr für dich gegeben, als nur einen meiner Krüppelarme. Immer, zu jeder Zeit.“
Als er aufstand und ging, war die Sonne nicht mehr zu sehen.
Ich roch nach Haarspray, er nach Schweiß. Die Mischung war perfekt, wie ich empfand und plötzlich nahmen die Dinge ihren Lauf. Er fragte mich, was ich am Liebsten tränke, Kaffee, Cappuccino oder doch lieber einen Latte? Ich musste ihn enttäuschen und bestellte mir einen Kakao. Die Sonne brannte heiß auf seiner glatten Haut, Schweißperlen rollten sämtlichen Stirnen hinab und ich saß mittendrin und lächelte.
Er erzählte mir von seinem Job, der Poesie und er zitierte sämtliche Philosophen, die er gerne mochte. Einmal stand er auf, breite seine Arme aus und sang mit kläglicher Stimme Pavarotti. Er brachte mich zum Lachen und mir war nichts mehr peinlich, fast so wie zu viel Alkohol, nur süßer. Vielleicht ein Mixgetränk.
Dann beschwerte er sich, dass Romantik nur bei großen Schriftstellern, Musikern oder allgemein Künstlern schön sei, nicht bei Männern wie ihm.
„Dann ist es einfach Kitsch, verstehst du? Dann denkt sich die normale Frau von heute: „Hey, der will dich einfach nur in die Kiste bekommen, mehr nicht!“ Und puff, aus ist es mit der super Idee von ernst gemeinten Sätzen unter den Linden im Park.“
„In was für einem Jahrhundert lebst du denn?“ Ich sah ihn an, grinste, es sollte nicht besonders ernst gemeint sein, es sollte zumindest keine Diskussion lostreten, aber er nahm es sehr persönlich.
„In was für einem Jahrhundert ich lebe? In einem Jahrhundert, in dem es noch um wahre Liebe geht. Um dumme, irrationale, irreführende, romantische, „kann-nicht-ohne-einander-leben“ Liebe!“
Ich sah ihn an, schlürfte meinen Kakao und dachte über seine Worte nach. Er hatte recht behalten, so etwas klang nur mit Musik gut. Vielleicht, weil das Klavier den Kitsch mit sich nimmt oder weil die Geigen es einfach überspielen. Und vielleicht war Julia ja auch nur gestorben, weil sie so sehr an dem fest hing, dass es nur eine große, wahre Liebe im Leben gibt? Und die ist ihr ja einfach verreckt.
Er redete die ganze Zeit, aber ich konnte ihm nicht mehr folgen, zu sehr nahmen mich meine Gedanken ein. Kann es sein, dass ich irgendwann aufgehört hatte, nach DER Liebe zu suchen und mich einfach anpasste?
Mein Kakao war leer, die Tasse stand vor mir und ich wurde immer unruhiger. Wenn dem so sei, überlegte ich, war ich für diesen Mann nicht bereit. Zumindest wollte ich nicht, dass er meinetwegen schrecklich kitschige Liebesgedichte verfasste, die frühestens in 50 Jahren romantisch wurden. So lange konnte man nicht warten, nicht mal für den perfekten Mann oder die perfekte Harrspray-Schweiß-Sommer-Mischung.
„Weißt du, wenn ich ehrlich sein soll, muss ich dir gestehen, dass ich genau so wie die anderen bin. Ich finde das alles auch schrecklich kitschig und ich glaube nicht mehr an die große Liebe!“
Er starrte mich verwirrt an. Ich hatte ihn in seiner hitzigen Argumentation unterbrochen und ich hatte ihn mit der schrecklichen Wahrheit konfrontiert, die leider eher realistisch aussah. Beides zusammen kann kein Mann vertragen.
Ich rückte den Stuhl nach hinten, stand auf, gab ihm die Hand und wollte meinen Kakao bezahlen, da zückte er seine Brieftasche und meinte: „So viel Romantik muss sein. Oder nennen Sie es doch besser Anstand!“ Dann ging er.
Und so waren wir wieder zum Siezen zurückgekehrt.

Donnerstag, 29. Juli 2010


Mitbewohnerin von einem Freund,
deine Gestalt auf diesem Sofa,
die hab ich nicht vergessen.
Mit der weißen Mütze siehst du fröhlich aus,
als schütze sie dich vor dem Fernseher,
der dich beschießt und du scheißt darauf.

Und ich weiß,
dass ich dich gerne mag.
Ich denk an dich und grinse, immer wenn ich Fahrrad fahre.
Das was wir hier unter uns besprechen,
muss unter uns ein Geheimnis sein.
Moritz Krämer - Mitbewohnerin

Mittwoch, 28. Juli 2010

Sie saß ihm gegenüber und aß ihre Spaghetti. Der Löffel lag unbenutzt neben dem Teller, sie nahm nur die Gabel und wickelte die Nudeln mit einer kreisenden Bewegung drum herum. Dabei entstand ein kreischendes Geräusch, das ihm die Haare auf den Armen zu Bergen stiegen ließ.
Sie blickte ihn irritiert an, runzelte dabei ihre breite Stirn. Dann lachte sie, weil er weiter reglos dasaß und nichts tat. Seine Suppe war schon längst erkaltet, das Baguette daneben würde morgen hart sein. Von Zähnen zerkleinerte Essensreste flogen über den Tisch, als sie ihm mit vollem Mund fragte, was denn los sei. Dabei zog sie ihre linke Augenbraue hoch. Nur er wusste, dass sie das tagelang zuhause vor dem Spiegel geübt hatte.
„Ich finde einfach, dass das cool aussieht! Stell dir mal vor du gehst zu deinem Mathelehrer, ziehst die Augenbraue so hoch, blickst ihn so beschissen arrogant wie möglich an und sagst dann: ‚Ich glaube, wir sollten uns noch mal über meine Note unterhalten!’ Ist das nicht beeindruckend?“
Dass der Lehrer ihr dadurch wohl eher ein schlechtes Mitarbeiten aufs Zeugnis geklatscht hätte, ignorierte sie und wischte es mit einer lässigen Handbewegung aus seinen Gedanken.
„Wenn ich das hier nicht packe, mach ich halt etwas Anderes. Ich finde, das Leben ist zu kurz, um sich mit so dummen Kleinigkeiten wie Schulnoten und „soziales Verhalten“ rumzuschlagen.“
Als sie noch kleine Kinder waren, hatten sie sich immer zusammen ausgemalt, dass sie später ein Haus kaufen würden und zusammen blieben, bis sie sterben würden. Als er sie eines Nachmittags dran erinnert hat, hatte sie nur gelacht und gemeint, dass sie ihre Freiheit viel zu sehr liebt, um mit ihrem besten Freund eine Familie zu gründen und in einem langweiligen Dorf bis an ihr Lebensende zu wohnen.
Nachdem sie den Film „Das wilde Leben“ gesehen hatte, war sie ganz begeistert von der Lebensart der Uschi Obermaier gewesen, schwärmte ihm tagelang etwas vor und meinte, dass mit 18 ihr Leben losginge. Er hatte immer zugehört, genickt, wenn sie seine Zustimmung sehen wollte und dabei gedacht, dass ihm das alles zu viel wurde.
Irgendwann hatte sie ihn aus ihren Zukunftsplänen gestrichen und er traute sich nicht zu fragen, was mit ihrer Freundschaft sei, die sie mittlerweile seit 16 Jahren pflegten.
Durch dick und dünn, wobei er dann eher dick wäre und sie dünn. Nicht nur dünn, sondern sehr dünn. Er war froh, dass sie wieder aß und ihre „Ich trete jetzt in den Hungerstreik!“-Phase abgelegt hatte.
Sie warf die Gabel in den Teller, sodass sie Soße ihm ins Gesicht spritzte.
„Gehen wir mal Paintball spielen? Ich hab’ das im Fernsehen gesehen und ich fand’s echt super! Wie im Krieg, pew pew pew!“
Sie stand auf und duckte sich, ihre Hände zu einer Pistole verformt, die Finger zuckten bei jedem Schuss.
„PEEEEEEEEEEEEW! Habe ich dich!“ Sie schoss auf ihn, die Kugel sollte ihn wohl in die Schulter treffen, aber ihm wäre das Herz lieber gewesen.
„Na, biste tot oder brauchst du noch eine?“ Sie stand über ihm und grinste über ihr schmales Gesicht. Berührten die Mundwinkel die Ohren oder bildete er sich das nur ein?
Sie zielte auf seine Stirn, lachte kurz und zielte dann auf die Glasscheibe hinter ihm.
„Wir sollten langsam zum Biologieunterricht, was meinst du?“

Donnerstag, 15. Juli 2010

Der Stachel

Irgendwas muss sich verändern, dachte sie und blickte aus dem Fenster, das zum Hinterhof führte. Graue Wände, wohin sie nur sah. Was hatte sie erwartet? Die wunderbare Welt? Die gab es schon lange nicht mehr, wenn sie den Erzählungen ihres Vaters glaubte. Arbeitslosigkeit, Ungerechtigkeit und Scheidung. Vielleicht war das der Alltag, von dem alle sprachen.
Aber das sollte alles sein?
Sie strich über ihre blaue Tagesdecke, zupfte die Kissen zurecht. Wir ordentlich alles war, wie unaufgeräumt ihr Kopf.
Vielleicht musste sie einfach spazieren gehen, vielleicht musste sie frische Luft in ihren kaputten Lugen spüren, vielleicht sollte sie rennen, bis sie kotzen musste.
Sie setzte sich auf ihr Bett und stützte den schweren Kopf auf ihren Händen ab.
Sog die abgestandene Luft tief in ihren Körper, bis auf den Grund der geschädigten Organe. Blut rauschte in ihren Ohren. Das erinnerte sie an den Tag, an dem ihr Vater ihren Traum von der Muschel zerstört hatte.
„Du hörst doch nicht das Meer rauschen, Dummerchen! Das ist das Blut, das fließt, nicht der Atlantik, nicht das Mittelmeer, noch nicht mal die Ostsee! Du musst noch viel lernen!“ Danach hatte er sich ein Bier geöffnet, sich vor den Fernseher gesetzt und sie mit dem Lernen alleine gelassen. Wie so oft.
Vielleicht war das seine Rache an ihrer Mutter. Vielleicht ließ er sie so oft alleine, um zu merken, wie es ist, jemanden geliebtes zu verlassen. Denn er tat es, jedes Mal, wenn er sie mit einem kurzen Satz abspeiste und sich lieber mit der Vormittagsshow im TV beschäftigte, als mit ihr.
Sie hatte früh gelernt, dass Weinen nur eine Zeit- und Tränenverschwendung war und ihr nur ein paar Ohrfeigen einfingen. Manchmal kullerten aber trotzdem noch ein paar Tropfen aus ihren trüben Kinderaugen. Wenn sie allein war oder wenn der Vater sie weggesperrt hatte. Mal auf dem Balkon, mal in der Küche.
Sie zog den Karton unter ihrem Bett hervor, öffnete den Pappdeckel und zählte die bunten Pillen. Viele, es waren viele geworden, in den Jahren.
Jeder Mensch sammelt etwas, dachte sie. Briefmarken, Tüten oder Hüte! Und ich sammle nun mal diese kleine Glücksbringer.
Viele davon waren rot, andere blau und dann gab es auch noch welche, die einen komischen Gelbton angenommen hatten. Fast so wie Pipi, dachte sie und musste grinsen.
„WO SIND DIE VERFICKTEN LEERGUT-BONS?!“
Die Stimme ihres Vaters ist schön, wenn er nicht brüllt. Das hatte sie allen erzählt, um sie ruhig zu stellen. Allgemein ist er nicht sehr böse, manchmal geht es ihm halt nicht so gut. Die Freundinnen hatten verständnislos den Kopf geschüttelt. Im Endeffekt verstand sie eh niemand. Und wenn sie ehrlich war, verstand sie ihre Lügen auch nicht.
Die Haustür fiel zu, sie sah ihrem alten Herren dabei zu, wie er die Kreuzung überquerte, vor sich hin schimpfte und in die Richtung des Getränkemarktes ging.
Du hast immer noch deine Glücksbringer. Du hast sie unter deinem Bett. Dir kann nichts passieren.
Sie räumte die gesamte Wohnung auf, brachte den Müll nach draußen und gab den Katzen Futter. Die Bilder ihrer Mutter drehte sie wie jeden Tag wieder um, obwohl sie wusste, dass das ihren Vater verärgerte.
„DIESE DUMME FOTZE SOLL BLEIBEN, WO SIE IST! WIR BRAUCHEN SIE NICHT!“
Es war ihr Wunsch gewesen, dass die Bilder blieben.
Dafür drehte ihr Vater sie jeden Tag aufs Neue um.
Du hast immer noch deine Glücksbringer. Du hast sie unter deinem Bett. Dir kann nichts passieren.
Die Tür wurde aufgeschlossen, der Vater trat ein.
„Schon wieder aufgeräumt, wat?!“ Er lallte, konnte aber noch gerade gehen. Sie hakte sich bei ihm unter und brachte ihn zum Sofa.
„Bring mir ma ein Glas Wasser.“ Das war keine Bitte. Sie lief schweigend in die Küche und suchte ein Glas, das nicht kaputt oder dreckig war.
Verlernt man eigentlich sprechen, wenn man es nie tut?
Das Glas in seiner Hand zitterte verdächtig und plötzlich wusste sie, warum das Geschirr Risse und Sprünge besaß.
Er legte sich längst auf die Couch und schloss die Augen.
„Dank dir. Weißte, ich find, wir machen dat hier ganz gut. Bist doch meine Kleine.“
Dann schlief er ein. Nach ein paar Minuten hörte man ihn schnarchen. Sie verzog sich langsam, vorsichtig setzte sie einen Fuß nach dem anderen auf den dreckigen Teppich, versuchte, keine Geräusche zu machen.
Im Zimmer atmete sie geräuschvoll aus.
Vielleicht hat er recht, dachte sie und rollte sich auf ihrem Boden zu einer Kugel zusammen. Wie ein Igel, überlegte sie. Die Vorstellung gefiel ihr: Über und über mit Stacheln bewachsen zu sein. Und keiner kann mich anfassen, keiner tut mir etwas.
Ein kleines Lächeln entstand auf ihrem Gesicht. Nicht für lange, zwei, drei Sekunden, aber es war genug.
Die Augen geschlossen, die Hände an den Beinen geklammert. Im Hintergrund ihr schnarchender Vater. Vielleicht war auch das Alltag.

Am nächsten Morgen war der Karton unter dem Bett geleert, ein Zettel lag neben dem billigen Versteck.
„Weil ich kein Igel bin.“